8. Mai 2020: * Tag des Streiks * andere Protestformen

8. Mai 2020: * Tag des Streiks * andere Protestformen

Gürsel Yıldırım

Die dem Text zu Grunde liegende Ausgangsfrage schrieb a&k am 17.03.20 auf Ihrer Facebook-Seite:  „(…)Die Frage stellt sich inzwischen anders, aber nicht weniger dringend, denn was heißt "Migrantifa", wenn man sich nicht mehr versammeln kann? Was wird aus der Idee eines politischen Streiks am 8. Mai, wenn das Virus große Teile des Wirtschaftslebens ohnehin stillllegt? Wir wollen helfen, dass die Diskussion auch unter den erschwerten Bedingungen weitergeht und dass die Namen und Schicksale der in Hanau Ermordeten nicht von den Corona-Nachrichten verschluckt werden. (https://www.facebook.com/analysekritik/posts/10157377900847476)

24 Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag am 18. Januar 1996 in Lübeck, das bis dahin folgenschwerste rassistische Verbrechen nach 1945, fand das rassistische Massaker in Hanau statt, bei dem am 19. Februar 2010 neun Migrant*innen von einem Nazi ermordet wurden. Kurz danach verdrängt die Corona-Krise alles. Alles, was im Zusammenhang von Hanau in den öffentlichen Räumen hätte stattfinden sollen, musste abgesagt werden. Da wir nach dem ersten Treffen in Hamburg am 12.03 mehr oder weniger in unseren vier Wänden „eingesperrt“ sind, wissen wir aktuell nicht, wer sich zum 8. Mai 20 etwas überlegt. 

Die gegenwärtige Corona-Pandemie und die sich daraus ergebenden Auflagen machen eine Durchführung von einer gewöhnlichen Demonstration unmöglich. Große Veranstaltungen wurden abgesagt. Der DGB schreibt zum 1. Mai 2020: "Die Solidarität, die die weltweite Ausbreitung des Corona-Virus uns allen abverlangt, zwingt uns auch zu einer historisch einmaligen Entscheidung. Schweren Herzens müssen wir die 1.-Mai-Kundgebungen dieses Jahres leider absagen. Solidarität heißt in diesem Jahr: Abstand halten! (…)." Auch die Organisator*innen der Ostermärsche 2020 haben abgesagt: „Statt auf die Straße für Frieden und Abrüstung zu gehen, wird der Protest dieses Jahr hauptsächlich zu Hause und virtuell stattfinden. Die Ostermärsche werden traditionell in lokaler und regionaler Verantwortung organisiert und viele Veranstalter*innen und Aktive machen sich bereits Gedanken über Alternativen, damit die Ostermärsche 2020 nicht komplett ausfallen.“ (www.friedenskooperative.de/alternativer-ostermarsch) Die SEEBRÜCKE Hamburg geht mit ihren guten Aktionen voran und möchte am Sonntag, 5.4.2020 „Spuren hinterlassen“. (https://seebruecke.org/leavenoonebehind/aktionen/wir-hinterlassen-spuren/) Soweit ist uns bekannt ist, wurden bisher von den Initiator*innen, Organisationen, die zum „Tag des Zorns. Bundesweiter Protest & Streik gegen Rassismus!“ am 8. Mai 20 aufgerufen haben, nichts abgesagt. Aktuell stellt sich die Frage, ob wir uns damit abfinden wollen, am 8. Mai 20 „Abstand zu halten!“ und alles auf Eis legen oder alternative Aktionsformen überlegen. 

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In den Zeiten der Corona-Pandemie brauchen solche Fragen realistische Antworten, die praktisch machbar sind und etwas mehr Risikobereitschaft und außergewöhnliche Aktionen fordern. Die Idee „Bundesweiter Protest & Streik gegen Rassismus!“ kann am 8. Mai 2020, angesichts der Corona-Pandemie an die aktuelle Situation angepasst und realisiert werden. Vorausgesetzt, dass die jeweiligen Organisationen, Gruppen, Netzwerke, neue Zusammenschlüsse aufgrund des Terroranschlags in Hanau in Absprache untereinander an der Idee festhalten, am 8. Mai nicht still und ruhig zu Hause zu sitzen. Alles was für 8. Mai überlegt wurde bis auf weiteres auf Eis zu legen oder zu verschieben, würde bedeuten, dass wir uns mit den bisherigen Protesten abfinden. Bis zum 8. Mai 20 haben wir noch genug Zeit, uns mit neu Ideen und für alternative Protestmöglichkeiten zu beschäftigen.

Die Angehörigen der Ermordeten brauchen Solidarität. 

Während wir in Hamburg „Abstand halten“ und nicht dazwischen gehen, wenn z. B. die „Lampedusa in Hamburg " Aktivist*innen gegen die polizeilichen Maßnahmen Widerstand leisten, haben die Betroffenen des Massakers in Hanau, den Schock vom 19. Februar nicht überwunden. Die Überlebenden, Familienangehörigen, Freund*innen der Ermordeten in Hanau sind mit dem für uns unvorstellbar schweren Folgen des rassistischen Terroranschlags beschäftigt. Trotz der Corona-Pandemie sollten wir unsere Aufmerksamkeit weiterhin auf „Hanau“ richten! Am 19. März 20 schrieb die „Initiative 19.Februar: "Für uns alle, die wir weiterhin hier leben müssen, ist nichts, wie es vorher war. Sie fehlen uns. Umso mehr braucht es Kontakt mit Menschen, die diese Trauer teilen können. Wir wollen nicht zulassen, dass die Vereinzelung uns trennt. Keiner soll allein gelassen werden. Wir haben uns auf den Weg gemacht. Und wir werden – trotz und in dieser Krise – in enger Verbindung bleiben."Wir wollen, dass die Namen und die Geschichten bei uns bleiben. Sie sind in unserer Erinnerung lebendig.“ (https://www.facebook.com/19FebruarHanau/posts/119416812998183) Die Initiative fordert „direkte Unterstützung für Betroffene, Kontakte zu Rechtsberatung und erfahrenen Anwält*innen, psychologischen Beistand und Umzugshilfe, finanzielle Unterstützung und unabhängige Aufklärung.“ Wir können die Familienangehörigen finanziell unterstützen, damit „die materielle und psychosoziale Versorgung und Betreuung der Familien, der Angehörigen, der Freund*innen der vielen Traumatisierten, die in Corona-Zeiten immer weiter eingeschränkt wird“ gesichert wird. Wir können „den Forderungen nach Aufklärung und politischen Konsequenzen“ unterstützen „und dass nichts vergessen wird.“ 

Im Staub und Rauch der Corona-Pandemie versuchen die Ermittler*innen das Massaker zu relativieren, in dem sie den Nazi-Täter als „Einzeltäter“ darstellen und den rechten Terroranschlag damit individualisieren. Wir schenken den Ermittler*innen - BKA Mitarbeiter*innen- kein Vertrauen und stehen hinter den Forderungen der Angehörigen. 

Wir sind zuletzt in Hanau von Nazis „erwischt“ worden. Hanau ist nach wie vor überall!

Mit dem Aufruf zum „Generalstreik überall“ bzw. „Tag des Streiks“ in Hamburg hatten wir die Vorstellung, gegen das Massaker in Hanau mit einem demonstrativen Zeichen der Stärke zu reagieren, „über das Gewöhnliche hinausgehen, bundesweit antirassistische Streiks zu organisieren und „den Alltag stören“. Mit einem Generalstreik dachten wir an eine Streikaktion aller von Rassismus betroffenen Menschen und an alle Menschen, die den Streik unterstützen wollen. Dafür hatten sich Netzwerke, Gruppen, Organisationen, einzelne Menschen auch in Hamburg mit der Idee eines Generalstreiks am 8. Mai beschäftigt. 

Mit den üblichen Reaktionen nach den rassistischen Attacken der letzten Jahre, Demonstrationen mit an die staatlichen Stellen und Politiker*innen gerichtete Forderungen - wie die etablierten Dachverbände es bereits ritualisiert tun, mehr finanzielle Mittel für Beratungsstellen und Workshops für die Staatsbediensteten oder Lehrkräfte etc. zu fordern, sind wir nicht weitergekommen. Rassistische Virusarten sterben nicht durch staatliche Maßnahmen. Die staatlichen Stellen müssten ihre eigenen rassistischen Strukturen auseinandernehmen und Nazis aus staatlichen Strukturen rausschmeißen, was sie nicht tun. Die aktuelle Entscheidung der EU, nationale und EU-Grenzen für „Ausländer“ dicht zu machen, spielt in die Hände der Nazis. Die intensivieren ihre Propaganda, nutzen die Corona-Pandemie, um weiter gegen uns Migrant*innen und Geflüchtete zu hetzen. Wir müssen damit rechnen, dass Nazis in Zeiten der Corona-Pandemie weitere Aktionen durchführen. 

8. Mai 2020: Tag des Zorns * Tag des Streiks * andere Protestformen 

Die Sorgen um die ökonomischen Folgen der Corona-Krise beschäftigt uns alle. Auch die Sorge, ob wir selbst, Freund*innen oder Familienangehörige vom Corona „erwischt“ werden. Was noch in den Zeiten der Corona-Pandemie auf uns zukommt, wissen wir nicht. Auch wenn wir Alltagssorgen und Zukunftsängste haben, sollten wir soweit wie möglichst keine Zeit damit verschwenden, uns mit Horror-Szenarien zu beschäftigen. Nicht unter „Hausarrest“ passiv warten und Däumchen drehen, bis Corona verschwindet. Trotz Ängsten und Sorgen müssen wir optimistisch bleiben. Und am 8. Mai zeigen, dass wir da sind. 

In den Zeiten der Corona-Pandemie ist die ursprüngliche Idee eines Generalstreiks nicht wie gedacht machbar, aber die Idee „Tag des Widerstands“ am 8. Mai ist möglich. Die Corona-Pandemie trifft uns alle, aber wir sind trotzdem handlungsunfähig. In Millionen von Häusern von Migrant*innen, in den Vereinen und sonstige Begegnungsorte, gibt es Fenster und Balkone. Die Kommunikation läuft von auch Fenster zu Fenster, von Balkon zu Balkon. Hunderttausende Häuser und andere Objekte bieten Möglichkeiten, Protest zu zeigen. Mit Transparenten, Karton-Sprüchen, Symbolen, Statements, allem was sonst bei Demonstrationen auf der Straße mit sich getragen wird, kann am 8. Mai 2020 demonstrativ nach außen getragen oder auf Wände projiziert werden: "Antifaschistische, antirassistische, antikolonialistische Forderungen, Forderungen gegen Antisemitismus und Antiziganismus.

Dazu kommen hunderttausende Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft, die als Antirassist*innen, Antifaschist*innen, die in Bezug auf rassistische Verhältnisse ihre „Privilegien in Frage zu stellen“. „Die Gesellschaft der Vielen“, die „Unteilbaren“, die „solidarischen Menschen“, die in den letzten Jahren gegen Alltags-, strukturellen und mörderischen Rassismus unter dem Motto „wir sind mehr“ auf der Straße waren. 

Auch wenn wir gerade mit Ausnahmezuständen konfrontiert sind, die uns zu Handlungsbeschränkungen zwingen und nach den Corona-Auflagen Spaziergänge zu zweit machen, ist es möglich, den „Bundesweiter Protest & Streik gegen Rassismus!“ zu planen, organisieren, unsere politischen Inhalte, Statements, Forderungen etc. am 8. Mai 2020 transparent machen: von Zuhause, aus den Büros uns sonstige Orte aus, ohne dass wir uns wie üblich dafür treffen müssen, autonom und selbstbestimmt, von dort aus, wo wir sind. 

Auch wenn wir nicht auf Erfahrungen aus der Vergangenheit zurückgreifen können, können wir neue Wege gehen. Eine solche Vorgehensweise, setzt darauf, die herrschenden Sicherheiten des Alltagsverständnisses zu provozieren, das gewohnte Denken in Unordnung zu bringen, und damit das grundsätzliche Denken über Gesellschaft in Bewegung zu setzen. Wir haben keine fertigen Antworten, die Erfolg versprechen würden – vielmehr setzen wir auf den Willen der Einzelnen, aus den offengelegten Widersprüchlichkeiten heraus, eigene Antworten zu suchen. Antworten auf das mörderische Treiben der Nazis, auf die Fragen von Rassismus betroffener Menschen und wie wir auf das Massaker in Hanau regieren können. 

Trotz eingeschränkten Handlungsfähigkeiten ist möglich, dass wir “Gesicht zeigen“. Wenn tausende Menschen es in den Kopf setzen, ist es auch machbar, dass wir am 8 Mai 2020 unsere Trauer in Wut, Zorn und Widerstand umwandeln, dass wir aus der Reihe tanzen! dass wir das Massaker in Hanau, die Ermordeten Migrant_innen nicht vergessen haben. 

Solidarische Grüße, Gürsel

04.04.20, Hamburg

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